Tobias Quast „Der Tod steht uns gut“

Essays sind, ganz besonders in den Geisteswissenschaften, eine zur individuellen Meinungsäußerung wunderbar geeignete Textform. Ohne die meist lästigen, strengen formalen Zwänge einer „echten“ wissenschaftlichen Arbeit lesen sie sich leichter und angenehmer, sind damit oft ideales Mittel, um über einen kleinen Kreis von Fachleuten hinaus auch das breitere Publikum anzusprechen. Große Philosophen haben in Essay-Form veröffentlicht, speziell, wenn es ihnen um existentielle oder ethische Fragen ging, die von Interesse für jeden Einzelnen oder die Gesellschaft im Allgemeinen waren: Montaigne mit seinen Essais (1580-1588) muss als Vater dieser Textgattung sicher zuerst genannt werden; Jean-Paul Sartres Der Existentialismus ist ein Humanismus (1946) sowie Albert Camus‘ Der Mythos des Sisyphos (1942) wären weitere berühmte Beispiele. Auch Tobias Quast hat einen Essay geschrieben, nein, sogar mehrere. Denn eigentlich handelt es sich bei „Der Tod steht uns gut“ um eine schlichte Aneinanderreihung von mehreren eher lose nebeneinanderstehenden Einzeltexten, die nur selten aufeinander verweisen sondern vielmehr ein jeweils eigenes Thema haben – verbunden nur durch eine übergeordnete Agenda.

Das große Problem dabei ist, dass der Autor seine Absichten nicht offenlegt. Während andere große Essays in der Regel klar kundtun, worauf sie eigentlich hinaus wollen, d.h. wo der Autor in einer bestimmten Frage steht oder was die Lösung für ein bestimmtes Problem sein könnte, versteckt sich Quast mit seiner Meinung hinter einer vermeintlich völlig neutralen Gegenüberstellung von historischen und rezenten Vorstellungen von Vergänglichkeit, nur um implizit immer wieder eine bestimmte Auffassung von Vanitas – nämlich die mittelalterlich-christliche, mit ihrem didaktisierenden Jenseitsglauben, der sich im „memento mori“ ausdrückt – allen anderen gegenüber vorzuziehen und zu bewerben. Derweil ätzt er nahezu durchgehend, aber vorsichtshalber stets nur unterschwellig, gegen konkurrierende Lebensentwürfe, wie etwa das antike und neuzeitlich-modifizierte „carpe diem“. Das ist schade, nein, sogar sehr schade, weil sein Buch an vielen Stellen nachvollziehbare und in meinen Augen richtige Beobachtungen macht, stellenweise sogar eine sehr gute Zusammenfassung kunst- und geistesgeschichtlicher Phänomene darstellt, doch durch die ständige implizite Wertung zu keinen brauchbaren Schlüssen kommt. Vielleicht stellt sich dieses Problem für solche Leser, die nicht besonders religions-kritisch sind, weniger prominent dar, belegen lässt es sich anhand der Wortwahl des Autors allerdings.

Dabei klingt das in der Einleitung überblicksartig zusammengefasste Programm der Essays zunächst vielversprechend: Ausgehend von Beobachtungen aus unserer Gegenwart stellt sich Quast die Frage danach, wie es dazu kommen konnte, dass wir heute Symbole, die eigentlich mal der christlichen Vanitas zugeschrieben wurden – allen voran der Totenkopf – ganz selbstverständlich in der Pop-Kultur verwenden, dass wir den grausigen „echten“ Tod einerseits aus unserer Gesellschaft verbannen, gar mithilfe von moderner Technik und Medizin überwinden wollen, dabei an unseren eigenen Tod nicht mehr denken (sondern nur noch den Tod der anderen betrachten) und dass wir andererseits aber seiner Symbolik heutzutage überall begegnen, ohne ständig über sie zu reflektieren. Er stellt fest, dass die Symbole (leider?) ihre alte christlich-eschatologische Bedeutung verloren haben und nun völlig losgelöst von religiösen Kontexten verwendet werden und begibt sich auf die Suche nach dem Grund dafür, den er letztlich in einer Kombination aus der Säkularisierung und Diesseits-Orientierung der Aufklärung, der Sentimentalisierung und Trivialisierung der Romantik sowie der Technisierung und Kapitalisierung der Moderne findet. In der Gegenwart sei so der christlich-didaktische Mahn-Gehalt der Vanitas-Symbole verloren gegangen, sich auf den eigenen Tod zu besinnen und vorzubreiten, das materiale Diesseits aufgrund seiner Flüchtigkeit gering zu schätzen und sich auf die Überwindung der Unsterblichkeit in einem ewigen Jenseits zu freuen, anstatt sie im Diesseits zu suchen. Ausgehend hiervon kann die ganze Sinnentleerheit und Krise unserer Zeit erklärt werden, so scheint es.

Quast macht – wie viele Kultur- und Zeitkritiker – allerdings den Fehler, bei seinem teilweise doch sehr schiefen Vergleich zwischen Mittelalter und Neuzeit (alle Menschen des Mittelalters verstanden Vanitas-Symbolik in der gehobenen Kunst wie ihre Muttersprache, aber heutzutage leider nur noch wenige akademisch gebildete Menschen?) stehenzubleiben und keine Konsequenzen zu ziehen, keine eigene positive Vision zu entwerfen, keine Handlungsoptionen aufzuzeigen, um es besser zu machen. Jedenfalls explizit. Implizit hat er die Konsequenz hingegen ständig parat: Rückkehr zur alten Sinnhaftigkeit der Symbolik, Rückkehr zum Begriff der christlichen Vanitas – letztlich: Rückkehr zum christlichen Glauben und seinem didaktisierenden Jenseitsversprechen? Man kann diesen Eindruck gewinnen – zumal Quast andere Lebensentwürfe und Denkansätze, sich der vermeintlichen Sinnlosigkeit sowohl unserer Zeit als auch der Vergänglichkeitssymbole entgegen zu stellen, vernachlässigt oder gar kritisch abbügelt.

Es ist auffällig, welch äußerst marginale Bedeutung in seinen Essays einerseits der Philosophie als auch andererseits der europäischen Antike zugestanden wird. Das zeigt sich schon im ersten Essay „Viele Tote, wenig Tod“, in dem der Autor zwar kurz vor dem Ende noch auf beide Bereiche verweist, ihnen aber einerseits nur zwei Absätze gefüllt mit Allgemeinplätzen widmet und dann auch noch Heideggers existentialistische Arbeit unnötig trivialisiert. Das zeigt sich weiter am generellen Unverständnis für eine philosophisch-psychologische Beschäftigung mit dem Tod, die ohne ein Jenseits auskommen muss, weil dieses nicht mehr in unser Weltbild passt, welche sich aber gerade in audio-visuellen Medien noch immer derjenigen Symbole bedienen muss, die die Gesellschaft überhaupt noch zuordnen kann, weil wir erst im Begriff sind, eine neue Bildsprache zu entwickeln. Das zeigt sich aber insbesondere im Essay „Vergänglichkeit als Menschheitsthema“, in welchem Quast sowohl die Antworten der fünf Weltreligionen als auch jene der Philosophiegeschichte zur Frage nach der Überwindung des Todes zusammenfasst.  An dieser Stelle kontrastiert er die allen Religionen innewohnende Aussicht auf Befreiung von Leid mit der monistischen Auffassung vom diesseitigen „endgültigen Ende des Menschen“, welche allerdings nur denkbar knapp angerissen wird. Der Einfluss Epikurs auf die moderne Philosophie (vgl. etwa Thomas Nagel, Bernard Williams, Héctor Wittwer und neuerdings auch Thomas Grundmann) wird nahezu völlig unterschlagen. Die dualistischen Philosophen erhalten mehr Raum, da sich bei ihnen „Parallelen zur Religion“ ziehen lassen. Bei Heidegger betont Quast abschließend erneut die fehlende Jenseitsorientierung. Dabei hatte er zuvor schon zugestanden, dass eben auch ein philosophisches Modell das Bewusstsein des Todes befördern kann („Unsterblichkeit auf dem Vormarsch“)  und dies bekräftigt der Verfasser dann sogar noch: „Dieses Bewusstsein [für die eigene Vergänglichkeit und Todesgewissheit] zu fördern, […] liegt zentral im Bestreben der großen Religionen und Philosophien. Um Vergänglichkeit und Tod, und damit dem Leben, einen Sinn zu geben.“ (S. 82) Man kommt trotzdem aufgrund unzähliger Textbelege nicht umhin, dies nur für einen Alibi-Satz zu halten. Philosophie und Religion stehen für Quast nicht gleichwertig nebeneinander, sie ist daher nicht weiter erwähnenswert und wird im Rest des Bandes auch kaum mehr angesprochen.

Ähnlich verhält es sich auch mit der Antike, die im historischen Essay „Was bisher geschah: Entwicklungsstufen der Vanitas“ de facto nicht vorkommt, sondern nur als Kontrast-Schablone für die christliche Vanitas-Vorstellung Thomas von Aquins genutzt wird. Für Quast beginnt die Geschichte des Bewusstseins der eigenen Vergänglichkeit mit dem Christentum, wird sie sprachlich durch das „memento mori“ repräsentiert, steht Horaz‘ „carpe diem“ dieser Vanitas konträr gegenüber, wird die Antike nur dort herangezogen, wo sie als Erklärungsmuster für (diesseitig-negative) Tendenzen der Renaissance und Aufklärung dienen kann. Dabei wäre es doch viel sinnvoller gewesen, auch „heitere“ antike Formen des Umgangs mit der Vanitas genauer ins Auge zu fassen. Immerhin gesteht Quast zu, dass das Todesproblem ein menschliches Universalthema ist, das uns zu allen Zeiten und an allen Orten beschäftigt hat. Doch aus dem Altertum übernimmt das Christentum nach Meinung des Autors nur die Symbolik (Totenköpfe, Skelette und dergleichen), während es die Bedeutung dieser Symbole neu erfinden muss, worin mitschwingt: die christliche Bedeutung ist die einzig wahre, eine bessere, als jene, die zuvor exisiterten. Genau deshalb ist für Quast auch die seiner Auffassung nach „sinnentleerte“ Weiterverwendung dieser Zeichen in der Gegenwart so ein großes Problem: Für ihn bedeutet der Verlust der christlichen Mahnung zugleich den Verlust der Reflexionsfähigkeit des Menschen auf seinen eigenen Tod. Aber diese Vermutung ist nicht nur anmaßend, sie ist zudem sachlich falsch

Der Mensch hat sein Bewusstsein des Todes nicht verloren. Er kann es gar nicht verlieren. Denn wenn es zur conditio humana gehört, denken zu können und sterblich zu sein, dann muss für jeden Menschen irgendwann der Punkt kommen, an dem er auf das Todesproblem zurückgeworfen wird. Allerdings geht er heute anders damit um, als noch im Mittelalter (sofern man in diesem von einem einheitlichen Verhalten ausgehen kann). Die Individualisierung und Egozentrik – sicherlich teils außer Kontrolle geraten – hat auch das Sterben erreicht. Doch selbst wenn wir ständig versuchen, im Alltag unsere Vergänglichkeit zu verdrängen und zu überwinden, gibt es noch immer genug Gelegenheiten, mit diesen letzten Dingen konfrontiert zu werden. Dass wir zeitgleich die Todessymbolik trivialisieren, kann vielleicht als Schutzmechanismus in einer Welt gesehen werden, in der Leistungsfähigkeit und Durchsetzungskraft wichtig sind, in der man Bedrohungen ironisiert, um sie weit von sich wegzuschieben, wohlwissend, dass man diesen Gefahren am Ende – alleine, nachdenkend – doch nicht entkommen kann. Den Christen des Mittelalters schreibt Quast allerhand Fähigkeiten aufgrund ihrer Religiösität zu, doch er vergisst dabei, dass trotz aller Kritik das Bildungsniveau in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen ist, die intellektuellen Fähigkeiten der Mehrheit bereits seit langem das übersteigen, was im Mittelalter denkbar war. Die Reflexionsfähigkeit wird heute – besonders durch die Philosophie, besonders durch die Auseinandersetzung mit antiken Texten – ausdrücklich gefördert, steht im Zentrum jedweder seriöser Bildungsbemühungen. Es gibt keine einfachen Antworten mehr, wie sie vielleicht noch in der christlichen Vanitas existierten. Wir leben in einer grundsätzlich wissenschaftlichen, diesseitig orientierten, pluralistischen Welt – zumindest noch. Ich teile Quasts Wunsch, dass die Reflexion über die eigene Sterblichkeit wieder häufiger geschieht, dass sie wieder offener betrieben wird, dass sie einen didaktischen Effekt für die eigene Lebensführung haben möge. Aber in Bezug auf die Vorstellung des Weges dieses Ziel zu erreichen, kommen wir beide nicht zusammen. Nicht die Rückwärtswende zum christlichen Jenseits kann die Lösung sein (wenn auch das historische Wissen hierüber nicht verloren gehen darf), sondern nur das Kämpfen um aufklärerische und um existenz-philosophische Werte. Carpe diem.

Daten und Fakten: Tobias Quast: Der Tod steht uns gut. Vanitas heute. Berlin: Nicolai 2013. Gebunden mit Schutzumschlag, 144 S.,  € 19,95, ISBN 978-3-89479-731-7.

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