Hugo von Hofmannsthal „Der Tor und der Tod“

Das Fin de siècle ist ein aus thanatologischer Perspektive äußerst interessanter Zeitraum. Nicht nur, dass die frühen Vertreter der Existenzphilosophie, allen voran Kierkegaard und Nietzsche, hier ihre Wirkung entfalten, auch die allgemeine Grundstimmung „zwischen [Aufbruch], Zukunftseuphorie, diffuser Zukunftsangst und Regression, Endzeitstimmung, Lebensüberdruss, Weltschmerz, Faszination von Tod und Vergänglichkeit, Leichtlebigkeit, Frivolität und Dekadenz“ (Wikipedia) beinhaltet offensichtlich ein ganzes Spannungsfeld von elementaren Fragen, die Leben, Sterben und Tod betreffen. Viele Künstler aus dieser Zeit, insbesondere die Schriftsteller, wie etwa Arthur Schnitzler oder Thomas Mann, haben diese elementaren Fragen aufgegriffen und in ihren Werken verarbeitet. Ebenso Hugo von Hofmannsthal.

Im Alter von nur 19 Jahren, noch lange vor seiner Promotion, beschäftigte sich der Dichter ganz konkret mit dem Problem des Todes und der Bedeutung, die dieses jedem Menschen bevorstehende Ereignis für uns haben kann. In seinem sehr kurzen (25 Seiten!) Vers-Drama „Der Tor und der Tod“ lässt Hofmannsthal den Edelmann Claudio und den leibhaftigen Tod zusammentreffen.

Claudio, offensichtlich ein wohlhabender Mann (vgl. die Regieanweisungen zu Beginn des Stücks), hadert mit sich selbst. An einem schönen Abend, der voller Vorzeichen des nahenden Endes ist (Schatten, schwindende Lichter, usw.) und der zu melancholischer Stimmung geradezu einzuladen scheint, blickt Claudio auf sein Inneres und fragt sich „Was weiß ich denn vom Menschenleben?“ (S. 9). Zwar habe er sehr wohl mitten im Leben „drin gestanden“, aber sich nie darin „verloren“, womit er auf seine Gefühlslosigkeit, auf seine emotionale Distanz zu anderen Menschen verweist. „Trösten“ habe er „nie gelernt“, nie sei er „von wahrem Schmerz durchschüttert“ gewesen. Ganz und gar materialistisch sei sein Leben gewesen, erfüllt von „totem Tand“ (10), von Ersatzinhalten: Kruzifix, Renaissance-Kunst, mittelalterliche Schätze – „Ich hab mich so an Künstliches verloren“ (12) ist das Resumee, das Claudio bleibt.

Doch an diesem Abend verändert sich Claudios Leben: Zunächst berichtet der Diener von unheimlichen Gestalten im Garten des Hauses, dann ertönt Geigenspiel aus einem Nebenraum – und dieses Geigenspiel rührt an das Innerste des Edelmanns. Erinnerungen an eine Kindheit und eine Jugend voller Leben, voller Gefühl und Leidenschaft werden von der Musik heraufbeschworen. Claudio erschrickt förmlich, als das Spiel verstummt und erst Recht gerät er in Panik als er erkennen muss, wer der Spielmann war: der Tod steht in der Tür.

Die genaue Darstellung des Todes wird dabei in den Regieanweisungen nicht vorgegeben. Dort heißt es nur „und in der Tür steht der Tod, den Fiedelbogen in der Hand, die Geige am Gürtel hängend.“ (17) Interessant zu wissen wäre nun, wie die Identifikation der Figur durch den Zuschauer erfolgen sollte. Reichte etwa der Titel des Stücks? Oder etwa die doch recht klassische Spielmannsthematik? Sollte der Schauspieler in einer ganz besonderen Art gekleidet sein? Ging Hoffmannsthal davon aus, dass jeder Regisseur wissen würde, wie man „den Tod“ darzustellen hat? Oder war hier etwa ein Freiraum beabsichtigt? Sicher scheint nur zu sein, dass zumindest Claudio die Identität der Figur sofort erkennt, seine panische Abwehrreaktion ist nicht anders zu erklären. Eine gewisse plakative Deutlichkeit der Funktion des Spielmannes muss also gegeben sein. Das Motiv des spätmittelalterlichen Knochenmanns scheidet dabei eher aus, spricht der Tod doch direkt im Anschluss: „Wirf dies ererbte Grau’n von dir!/ Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe!“ und weiter: „Aus des Dionysos, der Venus Sippe,/Ein großer Gott der Seele steht vor dir.“ (18) Ein schöner Mann also, eine ansehnliche Figur, sollte wohl auf der Bühne erscheinen – und dennoch unverkennbar sein.

Zwar hegt Claudio noch kurz die Hoffnung, der Tod möge aus einem bestimmten Grund gekommen sein, der hoffentlich nichts mit ihm zu tun habe, doch ist das nur ein sehr kurzer Versuch, die eigene Existenzangst zu kontrollieren. Denn alsbald erklärt der Tod: „Mein Kommen, Freund, hat stets nur einen Sinn.“ (18) Was nun folgt ist klassisch: Claudio bittet um sein Leben, um etwas mehr Zeit, um einen Aufschub. Er betont: „Ich habe nicht gelebt!“ (19) Doch der Geigenspieler bleibt – wie immer – unbeirrbar: „Was allen, ward auch Dir gegeben […] Doch alle reif, fallt ihr in meinen Arm.“ (20) Claudio fleht nun innig und versucht dem Tod begreiflich zu machen, was ihm im Leben gefehlt habe. So habe er andere Menschen nur als „Puppen“ betrachtet, sich nicht an diese binden können, nicht gespürt, was Liebe und Leid wirklich bedeuteten, woraufhin der Tod, um die Klage des Claudio zu entkräften, diesem Edelmann drei Beispiele dessen gibt, wie echtes Leben und echte Klage aussehen. Er führt Claudio drei Tote vor: dessen eigene Mutter, ein junges Mädchen, welchem der Edelmann einst das Herz brach und einen Mann, dem Claudio die Liebe seines Lebens raubte, nur weil es ihn „reizte“.

Erst im Angesicht dieser Schicksale bedauert Claudio dann wirklich und vollends die Natur seines Lebens hinsichtlich der Beziehung zu anderen Menschen, woraufhin er sich entschließt, dass es tatsächlich besser sei zu sterben: „Gewähre, was Du mir gedroht: Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!“ (30) In diesen letzten Momenten seines Lebens erfährt der Edelmann zum ersten Mal, was Leben heißt: „Erst, da ich sterbe, spür ich, daß ich bin.“ (31)

Die diesem Stück innewohnende Mahnung ist überdeutlich. Doch ist es nicht allein eine Aufforderung, sich seinen Mitmenschen zu öffnen, die Bindung zu anderen zu suchen und respektvoll miteinander umzugehen – was man alles durchaus aus dem Stück herauslesen könnte. Vielmehr ist das letzte entscheidende Zitat „Erst, da ich sterbe, spür ich, daß ich bin“ eine Einsicht, die im übertragenen Sinne nicht erst in den letzten Minuten des Lebens ihren Platz hat. Schon Johannes von Tepl schrieb in seinem „Ackermann“: „Sobald ein Menschenkind geboren ist, sogleich hat es den Kontrakt besiegelt, daß es sterben muß.“ Sowohl Martin Heidegger und Thomas Bernhard nahmen diesen Gedanken dann später auf. Thomas Bernhard schrieb in seinem Werk „Der Atem“:  „Wir sterben von dem Augenblick an, in welchem wir geboren werden, aber wir sagen erst, wir sterben, wenn wir am Ende dieses Prozesses angekommen sind.“ Stimmt man dieser Aussage zu, so ist die Bemerkung Claudios eine Ergänzung zu dieser Erkenntnis des ständigen Sterbens: Damit aus dem Sterben ein Leben wird, müssen wir uns unseres Sterbens erst bewusst werden. Nur dann verhindern wir die Überraschung, die Claudio empfand. Wer begriffen hat, dass seine Zeit auf dieser Welt endlich ist, der wird sein Leben anders führen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird eine solche Person ein Leben nach Claudios Vorbild eher ablehnen, wird Emotionen, Werte und Sinn zulassen und dem Materialismus nicht blind das Wort reden. Ganz ohne metaphysische Hintergedanken. Nur aufgrund der eigenen Vergänglichkeit. Weil eben das an Wert gewinnt, was selten, vergänglich und daher kostbar ist. Auch unser aller Leben.

Daten und Fakten: Hugo von Hofmannsthal: Der Tor und der Tod. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel, 1999. Hardcover,   31 S. , € 10,80 , ISBN 978-3-458-08028-2. (Insel-Bücherei 28) Das Stück wurde 1893 von Hofmannsthal verfasst, 1894 veröffentlicht und 1898 in München uraufgeführt.

2 Gedanken zu „Hugo von Hofmannsthal „Der Tor und der Tod“

  1. fleure85

    Hat der Tod wirklich noch nie, nie, nie nicht Aufschub gewährt? In dem Film mit Brad Pitt doch schon, oder? Gibts so was nicht in der Literatur?

    Interessantes Stück… und so schön kurz, könnte man glatt mal reinlesen, zumindest, wenn sich eine preisgünstigere Ausgabe findet, als die, die du angibst!

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  2. Thanatos Autor

    Da Hofmannsthal schon länger als 70 Jahre tot ist, kann man seine Werke auch schon im Projekt Gutenberg lesen. Kurz googeln oder in meiner Bibliographie auf Thanatologie.Net nachschlagen.

    Was den „Aufschub“ angeht: In besagtem Film hat der Tod meines Wissens keinen erbetenen Aufschub gewährt, sondern einen Aufschub aus eigenem Interesse angeboten. Ich halte das für einen kleinen aber feinen Unterschied.

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